In der westlichen Kultur unterscheiden wir zwischen dem Glauben (etwas für wahr halten) und dem Aberglauben. Laut Duden wird der Aberglaube “als irrig angesehener Glaube an die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte in bestimmten Menschen und Dingen” definiert.

Im deutschsprachigen Kulturraum geraten die noch von meiner Oma so sehr verinnerlichten Aberglauben und die Symbolik der Zahlen immer mehr in Vergessenheit. Oder denkst du an einem Freitag, den 13. gleich an ein drohendes Unheil und lässt das Auto stehen, um das Schicksal nicht herauszufordern? Und bleibt deine Wäsche in der Zeit zwischen den Jahren (zwischen Weihnachten bis zum 06.01.) ungewaschen?

Ganz anders erlebe ich Taiwan. Gläubige, die während ihrer Mittagspause die Götter um Rat fragen; Hochzeitstermine, die von Wahrsagern festgelegt werden; Menschen, die zum Geistermedium werden, überall durchdringen spirituelle Rituale und Bräuche den taiwanischen Alltag. Und mit jedem Tag mehr, den ich in Taiwan verbringe, spüre ich- eine haarscharfe Trennung zwischen Glaube und Aberglaube ist hier für mich einfach nicht möglich.

Das kleine 1×1 des Aberglaubens

Quasi zum Grundwissen gehört die Bedeutung der Zahlen. Die Begegnung mit der Zahl 4 wird aus dem taiwanischen Alltag verbannt, da der Sound der Zahl 4 “sì” unglücklicher Weise ähnlich klingt wie der für “sterben”, das “sǐ” heißt. In den älteren Hochhäusern wirst du deshalb vergebens im Fahrstuhl dem Drücker für 4. Stock (14., 24.,…) suchen.

Genauso verpönt sind die Stäbchen im Reis. Dieses erinnert an eine Opfergabe für die Toten, da die Räucherstäbchen vertikal in die Asche gesteckt werden.

Für die Ablage der Essstäbchen gibt es meist ein Bänkchen, auf dem das Esswerkzeug platziert wird oder du legst es einfach auf den Tisch.

Die Freundlichkeit der Taiwaner endet auch sehr abrupt, wenn du ein Messer oder eine Uhr verschenkst. Ein Messer von Kinmen ist ein beliebtes Mitbringsel. Du nutzt es aber besser in deiner eigenen Küche oder verschenkst es außerhalb dieser Zivilisation. Denn Messer zerschneiden die Freundschaft!

Denkst du vielleicht eine schöne Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald könnte deine Freunde in Taiwan erfreuen? Weshalb solltest du die besser nicht verschenken?
Hier greift die Wirkung des Homonym, denn “送鐘 -sòng zhōng”, also die Uhr verschenken, erinnert die beschenkte Person in Taiwan möglicherweise an die Bedeutung “das Finale senden” (sòng zhōng), also das eigene Ende einzuläuten.

迷信 – alles míxìn?

Der Aberglaube “mí xìn” wird vom taiwanischen Bildungsministerium im Mandarin-Wörterbuch als ein “allgemeiner Begriff für Überzeugungen, die nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen” beschrieben und “sollte beim Streben nach Wissen so weit wie möglich vermieden werden”.

Was ist der Aberglaube eigentlich? Der Glaube an die Untoten und Dämonen? Warum glauben die Taiwaner an Geister und das nach meinem Eindruck mehr als in anderen Ländern? Viel Gedankengut wurde von den Familien, die vom chinesischen Festland nach Taiwan gekommen sind, mitgebracht. Und vermutlich hat die jahrzehntelange Herrschaft der Japaner auf der Insel den Volksglauben mitgeprägt, denn auch das japanische Volk glaubt ebenfalls sehr stark an die Ahnen im Jenseits.

Hier wird Geistergeld auf der Straße verbrannt

Kleiner Ofen auf der Straße zum Verbrennen des Ahnengeldes

Der Ofen, in dem dafür eigens hergestelltes Papiergeld lichterloh brennt, gehört zum täglichen Bild in Taiwan. Dabei wird über die Auswahl des Papiergeldes streng unterschieden, ob die Götter und die Ahnen von dem verbrannten Geld profitieren sollen.

Doch besonders im siebten Monat des Mondkalenders, dem Geistermonat, kommt der Verbrennung des spirituellen Geldes eine besondere Bedeutung zu. Das Geld, das hier geopfert wird, muss den Verstorbenen für ein ganzes Jahr reichen. Nur ein Geist, der mit vollgestopften Taschen zurückkehren kann, wird ein zufriedener Geist sein.

Brautgeld und rote Umschläge

Würdest du einen roten Umschlag von der Straße aufheben?
In Taiwan solltest du das besser lassen! Warum?

Die Seele einer verstorbenen Frau wird bei den Verwandten ihres Mannes aufgenommen. Doch wo findet die Seele ihre letzte Ruhe, wenn die Verstorbene nicht verheiratet war?
In Taiwan gibt es dafür einen, wie ich finde, sehr pragmatischen Ansatz. Die Familie sucht nun postum nach einem Bräutigam. Wie das? Mit Hilfe des Brautgeldes. Dieses Geld liegt im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße.

Bloß nicht aufheben!

Hebt es ein Mann auf, geht er damit quasi das Eheversprechen mit der Verstorbenen ein. Also, bitte besser liegen lassen, wenn du nicht in einen interkulturellen Konflikt geraten möchtest.

Die Götter haben um 17 Uhr Feierabend

Als ich ihr vor Kurzem mit einer Freundin zusammen saß und ihr ein Bild von meinem Lieblingstempel am Abend zeigte, zuckte sie. “Du warst aber nicht drin, oder?”, fragte sie mich. Nein, ich hätte an diesem Abend keine Zeit gehabt, antwortete ich ihr, merkte aber schon, dass noch etwas Unausgesprochenes zwischen uns in der Luft lag. Meinen fragenden Blick erwidernd, erzählte sie mir von ihrer Großmutter. Diese warne ihre Familienmitglieder ausdrücklich davor, nach Einbruch der Dunkelheit einen Tempel zu betreten. Denn dann würden die guten Götter ruhen und die dunklen Gestalten (ich vermute, sie meint Dämone) würden durch den Tempel wandeln. “Aha”, antwortete ich, “die Götter machen also auch Feierabend!”

Tempeltür vom Sanjiadu Tiande Tempel in Taipei
An diesem Tempel war bereits Feierabend

Schade, ich finde gerade die roten leuchtenden Laternen verleihen den Tempeln so ein mystisches Ambiente. Doch wenn ich jetzt einen Tempel am Abend sehe, habe ich immer “Omis” Worte im Hinterkopf. Und vorsichtshalber verschiebe ich den Tempelbesuch dann lieber bis es draußen wieder hell ist.

Bitte anklopfen

Was machst du als Erstes bevor du dein Hotelzimmer betrittst? Die Zimmerkarte einsetzen und die Tür öffnen?
Soweit so gut- nun das Ganze nochmal auf taiwanische Art. Bitte klopfe, kündige den Bezug des Zimmers an und öffne dann die Tür. Warum? Nun, dieses Zimmer könnte schon vergeben sein und zwar an einen anderen Hotelgast, der nicht regulär eingecheckt hat. Um dem Besuch aus dem Jenseits Zeit zu geben, das Zimmer unauffällig an dir vorbei zu verlassen, verweile kurz an der Tür, bevor du das Zimmer betrittst. So hast du nicht mit einem unwirschen Geist ein Belegungsgerangel.

Aber glauben alle an den Aberglaube?

Die TaiwanNews berichtete über eine Umfrage, wonach 40% der befragten Taiwaner seltsame Begegnungen am Arbeitsplatz während des Geistermonats hatten.

Möglicherweise ist der gesellschaftliche Aberglaube bei der jüngeren Bevölkerung nicht so tief verankert wie bei den Älteren. Aber trotzdem möchte keiner ein Risiko eingehen und die Geister provozieren. Und wer weiß schon wirklich, ob so ein verärgerter Geist nicht doch eine Menge Unruhe stiften kann. Oder würdest du die Götter verärgern wollen?

Als ich mich mit meiner Sprachpartnerin Heidi über das Thema Aberglauben unterhalten habe, schenkte sie mir kurz darauf diesen Anhänger mit Zinnober gefüllt. Gut verpackt in dem hübschen Täschen soll er mich vor den „guten Brüdern“ schützen- wenn ich es schon nicht unterlassen kann während des Geistermonats zu reisen!

Mein Talisman gegen die Geister

Und tatsächlich hat mein neuer Talisman nun auch schon 20.000 Flugmeilen hinter sich. Und mich wohlbehalten nach Taiwan zurückgebracht ;-).

Wenn du mehr über Taiwans Tempel erfahren möchtest, dann schaue dir diesen Beitrag an.

Verfasst von

Chris

Ich lebe seit 2018 in Taipei und entdecke die Stadt und die ganze Insel jeden Tag aufs Neue und möchte mein Wissen und meine Erfahrung mit euch teilen.